Jan Luca musste innerhalb einer Minute versuchen
mit einer Hand ein Herrenhemd zuzuknöpfen, was ihm
etwas schwer fiel. Auf den Impuls von Herrn Seidel
„In Bethel ist Hilfe ganz normal“, war den anderen
Gruppenmitgliedern klar, dass jemand, der
beeinträchtigt ist, Hilfe annehmen darf. Dabei ist
aber immer oberstes Gebot, jedem Menschen mit
Handicap die Selbständigkeit zu erhalten. Wenn er
Hilfe brauche, müsse er um Hilfe bitten bzw.
diejenigen, die ihm helfen möchten, müssten
zunächst fragen, ob er Hilfe brauche, ob man ihm
helfen dürfe und wie man ihm helfen könne.
Jegliches gut gemeintes voreiliges Handeln würde
ihn entmündigen und ihn positiv diskriminieren.
Edwin war in einer anderen Disziplin gefordert: Er
musste versuchen in derselben Zeit wie Jan Luca
den Gesamtbetrag der sich in einem blickdichten
Beutel befindlichen Münzen zu ertasten. Berfin
erprobte sich darin, innerhalb der gesetzten Zeit
Einzelteile für Küchenmöbel zu montieren, Luca
jedoch sollte mit einem Rollstuhl Slalom fahren,
dabei eine Zeitung von einem Ständer holen, eine
Tür öffnen, durchzufahren und wieder zum
Ausgangspunkt zurück zu kommen und erfuhr so
nebenbei, mit welchen Barrieren ein
körperbehinderter Mensch zu kämpfen hat.
Jede Kleingruppe erhielt ein Foto mit einem
Gebäude, das sie in der Ortschaft finden und
darüber Informationen einholen musste, um sie dann
in einer Auswertungsrunde den anderen Gruppen
vorzustellen.
Die Fotoralley führte sie zu einem der ältesten
Betriebe Bethels, die Brockensammlung, kurz Brosa
genannt, mit dem Schriftzug „Sammelt die Brocken,
auf dass nichts umkomme“ (Joh. 6,12).
Die Läden der Brosa bieten Bekleidung,
Haushaltswaren und Antikes zu einem günstigen
Preis und garantieren vielen Menschen mit
Behinderungen einen Arbeitsplatz.
Alt-Ebenezer und die Werkstatt Spielkiste mit dem
Laden Mobilé waren die nächsten Gebäude.
Durch die Präsentation der Gruppe erfuhren wir,
dass die Menschen früher in den Pflegehäusern in
Bethel in großen Schlafsälen mit vielen anderen
zusammen untergebracht waren. Mithilfe eines
Torfbettes wurde das Problem des Einnässens
gelöst. Das Material hat die Eigenschaft, ähnlich
dem Katzenstreu, Urin aufzusaugen und zu
binden und konnte problemlos entsorgt werden.
Außerdem verhinderte es durch gute
Anpassungsfähigkeit das sogenannte Wundliegen.
In der Werkstatt „Spielkiste“ arbeiten Menschen
mit psychischen Krankheiten. Hier werden Holz- und
textile Produkte hergestellt. Weitere Wege führten
zur Zionskirche, zur Waldkirche, dem Künstlerhaus
Lydda, zur Mamre-Patmos-Schule, die eine
integrative, barrierefreie Schule für lern-,
geistig, körperlich und mehrfach behinderte Kinder
und Jugendliche ist, und zum renommierten und
überregionalen Epilepsie-Zentrum Bethels mit den
Kliniken Mara I und Kidron sowie zu Werkstätten
für Verpackung und Montage (VerMont), einer
Handweberei, Druckerei und einem Direktversand.
So gelang es innerhalb kürzester Zeit, sich über
die einzelnen wichtigen Einrichtungen Bethels zu
informieren und schon vorweg mit in Bethel
lebenden Menschen in Kontakt zu treten. Einhellige
Meinung aller Gruppen: „Das war spitze!“
In Modul 3, dem letzten großen Programmpunkt,
folgte die Vorbereitung auf das Gespräch mit
Michael (49) und Andreas (32), die in Bethel
arbeiten und in der Nähe eine Wohnung beziehen.
„Was kann und darf ich eigentlich fragen?“, „Wie
spreche ich mein Gegenüber an?“ Diese und weitere
Fragen wurden zur intensiven Vorbereitung auf die
Gespräche im Vorhinein geklärt. Anschließend wurde
der Kurs in zwei gleich große Gruppen eingeteilt
und dem jeweiligen Gesprächspartner zugeordnet.
Die Gruppe von Frau Menke führte das Gespräch mit
Andreas, 32 Jahre alt. Er ist Autist und
Epileptiker, wobei er nach der Frage nach dem Grad
seiner Behinderung nur von seiner Epilepsie
berichtete. Nach eigenen Angaben hatte er aber
seit seiner Kindheit keinen epileptischen Anfall
mehr.
Andreas lebt in der Nähe von Bethel in einer
Wohneinrichtung und arbeitet in Bethel in einer
Werkstatt, in der er „Füße“ für den
Küchenhersteller Nobilia zusammenschraubt. Sein
Arbeitstag beginnt i.d.R. um 8 Uhr und endet um
ca. 16 Uhr.
Zu Beginn wurden wir darauf hingewiesen, dass es
je nach Tagesform sein kann, dass Andreas kaum bis
gar nicht viel mit uns reden könnte. Bei unserem
Besuch war es aber ganz anders – im Gegenteil:
Offen und freundlich begrüßte Andreas „seine“
Gäste und begann nach der ersten Frage der
Schülerinnen und Schüler offen und fröhlich über
sich zu berichten. Neugierig und erfreut über so
viel Offenheit, hörten die Schülerinnen und
Schüler gebannt zu.
Besonders interessierten Andreas´ Hobbys, die sehr
vielfältig sind. Neben dem Malen und seiner großen
Leidenschaft für Sportarten wie Fußball, Snooker
und Darts ist sein liebstes Hobby das
Fahrradfahren. Erstaunen erzeugte er bei der
Beschreibung der Fahrradstrecke, die er innerhalb
Bielefelds zurückgelegt hat, und zwar auf den
Kilometer genau. Diese „ Inselbegabung“, ein
typisches Phänomen bei Autisten, zeigt eine
außergewöhnliche Begabung in einem speziellen
Teilbereich.
Erzählungen über seine Eltern, zu denen er einen
engen Kontakt hat, über sein Lieblingsessen
(Lasagne) und dem Fußball-Club Arminia Bielefeld
rundeten unser heiteres Gespräch ab.
Ganz anders jedoch Michael – auf den ersten Blick
überhaupt nicht auffällig. Was war denn sein
Handicap?
Zu seiner Vita:
- alkoholabhängige Eltern
- kein Schulabschluss in der Gesamtschule
- Gewalt seines Vaters gegenüber der Mutter,
die er, als er 14 Jahre alt war, mit
Gegengewalt verteidigte
- früher Tod des Vaters
- danach Umzug mit seiner Mutter in eine
Notunterkunft
- der Tod seiner Mutter ließ ihn in den
Alkoholismus und
- Obdachlosigkeit sowie
Kleinkriminalität (Ladendiebstahl) abgleiten
- hoch alkoholisiert schlug er einen Mann, der
verbal seine verstorbene Mutter beleidigte,
krankenhausreif und wurde wegen schwerer
Körperverletzung angeklagt (Staatsanwalt
forderte 3 Jahre Gefängnis, er erhielt am
Schluss jedoch eineinhalb Jahre Gefängnis im
offenen Vollzug)
- fand im Anschluss den Weg nach Bethel, um
seinen Alltag durch Arbeit zu strukturieren
- nach mehreren Rückfällen ist er jetzt
„trocken“, hat seine jetzige Frau auch in
einer diakonischen Einrichtung kennengelernt
und ist mittlerweile Vater von 2 Kindern,
eines davon ist durch einen Unfall behindert.
- Die Familie lebt von Hartz 4 außerhalb
Bethels. Für seine achtstündige Tätigkeit
erhält er 200 € im Monat – nicht mehr als ein
Taschengeld, so Michael.
Offen und unprätentiös stellte er sich den Fragen
der Schüler, die sein Leben sichtlich berührte,
auch fassungslos machte. „Jede Geschichte hat auch
immer eine Vorgeschichte“, so Herr Seidel im
Nachgang zu diesem Gespräch. Michaels größter
Wunsch ist die Eingliederung in den offenen
Arbeitsmarkt, bei dem ihm ein Sozialarbeiter der
Diakonie unterstützt. (s. Aufgabenfelder Bethels)
Auf Edwins Frage, was ihn denn motiviert habe,
unserer Gruppe so viel , so offen und ungeschönt
aus seinem Leben zu erzählen, kam die Antwort:
„Ich möchte euch vor den Gefahren des Alkohols
warnen. Ich bin nicht gänzlich gegen Alkohol, aber
er sollte mit Verstand und Vorsicht genossen
werden. Wenn ich mein Leben noch einmal neu leben
könnte, so nur mit dem Wissen von heute. Der
Missbrauch von Alkohol verändert den Menschen
nicht nur mental, sondern vernichtet auch soziale
Strukturen. Meine Familie musste
Stimmungsschwankungen und äußerliche
Vernachlässigung in der Rückfallphase mit
durchleben. Der Alkohol hat meine Gesundheit
geschädigt. Durch ihn bin ich Diabetiker
geworden.“ Ohne die diakonische Einrichtung in
Bethel wäre er nicht von seiner Sucht
heruntergekommen, hätte keine Möglichkeit gehabt,
eine Struktur in seinem „neuen“ Leben zu erfahren
und hätte auch keine Chance sich auf dem
Arbeitsmarkt zu rehabilitieren. Er könne zwar sich
und seiner Familie finanziell nicht viel bieten,
sie müssten sich in allen Lebensbereichen
einschränken, was aber zähle, wäre die zweite
Chance in seinem Leben und die Liebe von und zu
seiner Familie.
Mit Menschen in
Bethel in Kontakt zu kommen, sich auf Gespräche
einzulassen, sich Zeit zu nehmen und auch Geduld
beim Zuhören zu haben, war eindeutig das
Nachhaltigste des Tages.
Text: Gislinde
Dahmen und Jaqueline Menke
Fotos: Gislinde Dahmen