23.02.2019

 LeBen, Arbeiten mit Einschränkungen – Gemeinschaft verwirklichen

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Religionsunterricht vor Ort 2019

„Zehn Minuten vor der Zeit, ist des Soldaten Pünktlichkeit“ – eine alte Redewendung, die dieses Mal auch auf unsere Religionsgruppe, 17 Schülerinnen und Schüler der 8b/c,  zutraf.
Freundlich empfing uns nach zweistündiger Fahrt Jan Seidel, Sozialarbeiter in Bethel und seine Praktikantin Natalia Skrylung.  Eine erste Begegnung mit einem Handicap: Natalia ist kleinwüchsig, ca. 1,30 m, und wollte mit uns zusammen den Tag bestreiten, jedoch in der Rolle einer Auszubildenden.
Das Programm, das uns erwartete, bestand wie in jedem Jahr aus drei Modulen. Im ersten ging es mit einem Quiz rund um Bethel in spielerisch-informativer Weise los:  Bethel Geschichte – Anders sein – Schule und Arbeit –Freizeit – Zahlen und Fakten – Bethel  allgemein. Dabei erfuhren wir, dass mehr als 17 000 Mitarbeiter/innen sich in Bethel für kranke, behinderte, pflegebedürftige oder sozial benachteiligte Menschen engagieren und dass diese Einrichtung vielfältige Unterstützungsangebote in den Bereichen Behindertenhilfe, Jugendhilfe, Psychiatrie, Sucht, Wohnungslosenhilfe sowie Arbeit und Rehabilitation anbietet. Ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt ermöglicht sterbenden Menschen zudem die Hospizarbeit.
Im Quiz integriert waren auch Aktionen, die jeder Kleingruppe bei erfolgreicher Ausführung Punkte verschafften. Alle Aktionen zeigten die verschiedenen Arten von Handicaps:
Arne übernahm die Rolle eines Menschen, der keine Arme hatte und nun einen Begriff aufschreiben sollte, den die anderen Gruppenmitglieder erraten mussten – und das nur mit seinem Mund! Mithilfe eines vorher desinfizierten und mit Folie abgeklebten Eddings gelang ihm das mit Bravour, und zwar so gut, dass alle anderen Gruppen noch offenstehende Aktionen vor den anderen Aufgaben bewältigen wollten.
             
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Jan Luca musste innerhalb einer Minute versuchen mit einer Hand ein Herrenhemd zuzuknöpfen, was ihm etwas schwer fiel. Auf den Impuls von Herrn Seidel „In Bethel ist Hilfe ganz normal“, war den anderen Gruppenmitgliedern klar, dass jemand, der beeinträchtigt ist, Hilfe annehmen darf. Dabei ist aber immer oberstes Gebot, jedem Menschen mit Handicap die Selbständigkeit zu erhalten. Wenn er Hilfe brauche, müsse er um Hilfe bitten bzw. diejenigen, die ihm helfen möchten, müssten zunächst fragen, ob er Hilfe brauche, ob man ihm helfen dürfe und wie man ihm helfen könne. Jegliches gut gemeintes voreiliges Handeln würde ihn entmündigen und ihn positiv diskriminieren.
Edwin war in einer anderen Disziplin gefordert: Er musste versuchen in derselben Zeit wie Jan Luca den Gesamtbetrag der sich in einem blickdichten Beutel befindlichen Münzen zu ertasten. Berfin erprobte sich darin, innerhalb der gesetzten Zeit Einzelteile für Küchenmöbel zu montieren, Luca jedoch sollte mit einem Rollstuhl Slalom fahren, dabei eine Zeitung von einem Ständer holen, eine Tür öffnen, durchzufahren und wieder zum Ausgangspunkt zurück zu kommen und erfuhr so nebenbei, mit welchen Barrieren ein körperbehinderter Mensch zu kämpfen hat.

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Jede Kleingruppe erhielt ein Foto mit einem Gebäude, das sie in der Ortschaft finden und darüber Informationen einholen musste, um sie dann in einer Auswertungsrunde den anderen Gruppen vorzustellen.    
Die Fotoralley führte sie zu einem der ältesten Betriebe Bethels, die Brockensammlung, kurz Brosa genannt, mit dem Schriftzug „Sammelt die Brocken, auf dass nichts umkomme“ (Joh. 6,12).
Die Läden der Brosa bieten Bekleidung, Haushaltswaren und Antikes zu einem günstigen Preis und garantieren vielen Menschen mit Behinderungen einen Arbeitsplatz.

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Alt-Ebenezer und die Werkstatt Spielkiste mit dem Laden Mobilé waren die nächsten Gebäude.
Durch die Präsentation der Gruppe erfuhren wir, dass die Menschen früher in den Pflegehäusern in Bethel in großen Schlafsälen mit vielen anderen zusammen untergebracht waren. Mithilfe eines Torfbettes wurde das Problem des Einnässens gelöst. Das Material hat die Eigenschaft, ähnlich dem Katzenstreu, Urin aufzusaugen und zu  binden und konnte problemlos entsorgt werden. Außerdem verhinderte es durch gute Anpassungsfähigkeit das sogenannte Wundliegen.
In der Werkstatt „Spielkiste“ arbeiten Menschen mit psychischen Krankheiten. Hier werden Holz- und textile Produkte hergestellt. Weitere Wege führten zur Zionskirche, zur Waldkirche, dem Künstlerhaus Lydda, zur Mamre-Patmos-Schule, die eine integrative, barrierefreie Schule für lern-, geistig, körperlich und mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche ist, und zum renommierten und überregionalen Epilepsie-Zentrum Bethels mit den Kliniken Mara I und Kidron sowie zu Werkstätten für Verpackung und Montage (VerMont), einer Handweberei, Druckerei und einem Direktversand.
So gelang es innerhalb kürzester Zeit, sich über die einzelnen wichtigen Einrichtungen Bethels zu informieren und schon vorweg mit in Bethel lebenden Menschen in Kontakt zu treten. Einhellige Meinung aller Gruppen: „Das war spitze!“
In Modul 3, dem letzten großen Programmpunkt, folgte die Vorbereitung auf das Gespräch mit Michael (49) und Andreas (32), die in Bethel arbeiten und in der Nähe eine Wohnung beziehen. „Was kann und darf ich eigentlich fragen?“, „Wie spreche ich mein Gegenüber an?“ Diese und weitere Fragen wurden zur intensiven Vorbereitung auf die Gespräche im Vorhinein geklärt. Anschließend wurde der Kurs in zwei gleich große Gruppen eingeteilt und dem jeweiligen Gesprächspartner zugeordnet.
Die Gruppe von Frau Menke führte das Gespräch mit Andreas, 32 Jahre alt. Er ist Autist und Epileptiker, wobei er nach der Frage nach dem Grad seiner Behinderung nur von seiner Epilepsie berichtete. Nach eigenen Angaben hatte er aber seit seiner Kindheit keinen epileptischen Anfall mehr.

Andreas lebt in der Nähe von Bethel in einer Wohneinrichtung und arbeitet in Bethel in einer Werkstatt, in der er „Füße“ für den Küchenhersteller Nobilia zusammenschraubt. Sein Arbeitstag beginnt i.d.R. um 8 Uhr und endet um ca. 16 Uhr.
Zu Beginn wurden wir darauf hingewiesen, dass es je nach Tagesform sein kann, dass Andreas kaum bis gar nicht viel mit uns reden könnte. Bei unserem Besuch war es aber ganz anders – im Gegenteil: Offen und freundlich begrüßte Andreas „seine“ Gäste und begann nach der ersten Frage der Schülerinnen und Schüler offen und fröhlich über sich zu berichten. Neugierig und erfreut über so viel Offenheit, hörten die Schülerinnen und Schüler gebannt zu.
Besonders interessierten Andreas´ Hobbys, die sehr vielfältig sind. Neben dem Malen und seiner großen Leidenschaft für Sportarten wie Fußball, Snooker und Darts ist sein liebstes Hobby das Fahrradfahren. Erstaunen erzeugte er bei der Beschreibung der Fahrradstrecke, die er innerhalb Bielefelds zurückgelegt hat, und zwar auf den Kilometer genau. Diese „ Inselbegabung“, ein typisches Phänomen bei Autisten, zeigt eine außergewöhnliche Begabung in einem speziellen Teilbereich.
Erzählungen über seine Eltern, zu denen er einen engen Kontakt hat, über sein Lieblingsessen (Lasagne) und dem Fußball-Club Arminia Bielefeld rundeten unser heiteres Gespräch ab.

Ganz anders jedoch Michael – auf den ersten Blick überhaupt nicht auffällig. Was war denn sein Handicap?
Zu seiner Vita:
  • alkoholabhängige Eltern
  • kein Schulabschluss in der Gesamtschule
  • Gewalt seines Vaters gegenüber der Mutter, die er, als er 14 Jahre alt war, mit Gegengewalt verteidigte
  •  früher Tod des Vaters
  • danach Umzug mit seiner Mutter in eine Notunterkunft
  • der Tod seiner Mutter ließ ihn in den Alkoholismus und
  • Obdachlosigkeit  sowie Kleinkriminalität (Ladendiebstahl) abgleiten
  • hoch alkoholisiert schlug er einen Mann, der verbal seine verstorbene Mutter beleidigte, krankenhausreif und wurde wegen schwerer Körperverletzung angeklagt (Staatsanwalt forderte 3 Jahre Gefängnis, er erhielt am Schluss jedoch eineinhalb Jahre Gefängnis im offenen Vollzug)
  • fand im Anschluss den Weg nach Bethel, um seinen Alltag durch Arbeit zu strukturieren
  • nach mehreren Rückfällen ist er jetzt „trocken“, hat seine jetzige Frau auch in einer diakonischen Einrichtung kennengelernt und ist mittlerweile Vater von 2 Kindern, eines davon ist durch einen Unfall behindert.
  • Die Familie lebt von Hartz 4 außerhalb Bethels. Für seine achtstündige Tätigkeit erhält er 200 € im Monat – nicht mehr als ein Taschengeld, so Michael.
Offen und unprätentiös stellte er sich den Fragen der Schüler, die sein Leben sichtlich berührte, auch fassungslos machte. „Jede Geschichte hat auch immer eine Vorgeschichte“, so Herr Seidel im Nachgang zu diesem Gespräch. Michaels größter Wunsch ist die Eingliederung in den offenen Arbeitsmarkt, bei dem ihm ein Sozialarbeiter der Diakonie unterstützt. (s. Aufgabenfelder Bethels)

Auf Edwins Frage, was ihn denn motiviert habe, unserer Gruppe so viel , so offen und ungeschönt aus seinem Leben zu erzählen, kam die Antwort: „Ich möchte euch vor den Gefahren des Alkohols warnen. Ich bin nicht gänzlich gegen Alkohol, aber er sollte mit Verstand und Vorsicht genossen werden. Wenn ich mein Leben noch einmal neu leben könnte, so nur mit dem Wissen von heute. Der Missbrauch von Alkohol verändert den Menschen nicht nur mental, sondern vernichtet auch soziale Strukturen. Meine Familie musste Stimmungsschwankungen und äußerliche Vernachlässigung in der Rückfallphase mit durchleben. Der Alkohol hat meine Gesundheit geschädigt. Durch ihn bin ich Diabetiker geworden.“ Ohne die diakonische Einrichtung in Bethel wäre er nicht von seiner Sucht heruntergekommen, hätte keine Möglichkeit gehabt, eine Struktur in seinem „neuen“ Leben zu erfahren und hätte auch keine Chance sich auf dem Arbeitsmarkt zu rehabilitieren. Er könne zwar sich und seiner Familie finanziell nicht viel bieten, sie müssten sich in allen Lebensbereichen einschränken, was aber zähle, wäre die zweite Chance in seinem Leben und die Liebe von und zu seiner Familie.

Mit Menschen in Bethel in Kontakt zu kommen, sich auf Gespräche einzulassen, sich Zeit zu nehmen und auch Geduld beim Zuhören zu haben, war eindeutig das Nachhaltigste des Tages.

Text: Gislinde Dahmen und Jaqueline Menke
Fotos: Gislinde Dahmen



Letzte Änderung: 23.02.2019