Jonas war in einer anderen Disziplin gefordert: Er
musste versuchen in derselben Zeit wie Jule den
Gesamtbetrag der sich in einem blickdichten Beutel
befindlichen Münzen zu ertasten. Nils und Jan
erprobten sich darin, innerhalb der gesetzten Zeit
mit der linken Hand Briefmarken auszuschneiden,
Inken jedoch sollte mit einem Rollstuhl Slalom
fahren, dabei eine Zeitung von einem Ständer holen
und erfuhr so nebenbei, mit welchen Barrieren ein
körperbehinderter Mensch zu kämpfen hat.
Das zweite Modul schloss sich nahtlos an: Jede
Kleingruppe erhielt ein Foto mit einem Gebäude,
das sie in der Ortschaft finden und darüber
Informationen einholen musste, um sie dann in
einer Auswertungsrunde den anderen Gruppen
vorzustellen.
Die Fotoralley führte sie zu einem der ältesten
Betriebe Bethels, die Brockensammlung, kurz Brosa
genannt, mit dem Schriftzug „Sammelt die Brocken,
auf dass nichts umkomme“ (Joh. 6,12).
Die Läden der Brosa bieten Bekleidung,
Haushaltswaren und Antikes zu einem günstigen
Preis und garantieren vielen Menschen mit
Behinderungen einen Arbeitsplatz.
Alt-Ebenezer und die Werkstatt Spielkiste mit dem
Laden Mobilé waren die nächsten Gebäude.
Durch die Präsentation der Gruppe erfuhren wir,
dass die Menschen früher in den Pflegehäusern in
Bethel in großen Schlafsälen mit vielen anderen
zusammen untergebracht waren. Mithilfe eines
Torfbettes wurde das Problem des Einnässens
gelöst. Das Material hat die Eigenschaft, ähnlich
dem Katzenstreu, Urin aufzusaugen und zu
binden und konnte problemlos entsorgt werden.
Außerdem verhinderte es durch gute
Anpassungsfähigkeit das sogenannte Wundliegen.
In der Werkstatt „Spielkiste“ arbeiten Menschen
mit psychischen Krankheiten. Hier werden Holz- und
textile Produkte hergestellt.
Die Buchhandlung des Ortes, die 1879 gegründet
wurde, ist ein gutes Beispiel für gelungene
Inklusion – sie bietet jeweils 5 behinderten und
nicht-behinderten Menschen eine Beschäftigung.
Das 1869 gegründete ehemalige Mutterhaus der
Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta bot
damals unverheirateten Frauen eine
gesellschaftlich anerkannte berufliche
Qualifikation und dient heute als
Ausbildungsstätte für pflegnerische Berufe im
Gesundheitswesen.
Weitere Wege führten zur Zionskirche, zur
Waldkirche, dem Künstlerhaus Lydda, zur
Mamre-Patmos-Schule, die eine integrative,
barrierefreie Schule für lern-, geistig,
körperlich und mehrfach behinderte Kinder und
Jugendliche ist, und zum renommierten und
überregionalen Epilepsie-Zentrum Bethels mit den
Kliniken Mara I und Kidron sowie zu Werkstätten
für Verpackung und Montage (VerMont), einer
Handweberei, Druckerei und einem Direktversand.
So gelang es innerhalb kürzester Zeit, sich über
die einzelnen wichtigen Einrichtungen Bethels zu
informieren und schon vorweg mit in Bethel
lebenden Menschen in Kontakt zu treten. Einhellige
Meinung aller Gruppen: „Das war spitze!“
Modul 3 war das Schwierigste: Gespräche mit
Menschen aus Bethel, die sich auf uns freuten.
Bloß, was dürfen wir fragen, was eher nicht, wie
sprechen wir sie an? Was erwartet uns/mich? Was,
wenn der Gesprächsfluss ins Stocken gerät?
Einige Szenarien wurden „durchgespielt“, als
Hilfen standen natürlich immer die begleitenden
Lehrerinnen, Frau Rüßing und Frau Dahmen,
zur Seite. Und dann erschienen sie, zwei
freundliche Gesprächspartner, unterschiedlichen
Geschlechts mit unterschiedlichen
Beeinträchtigungen: Eine verheiratete Frau mit
Epilepsie als Handicap und der Junggeselle
Rüdiger, 59 Jahre alt, mehrfach behindert -
Brillenträger, schwerhörig, gehbehindert,
Stotterer, leichte geistige Behinderung in
Kombination mit einer Form des Autismus.
Die Großgruppe wurde in 2 Kleingruppen aufgeteilt
und machte mit den jeweiligen Gesprächspartnern
unterschiedliche Erfahrungen. Die anfängliche
Verhaltenheit wich in der ersten Gruppe schnell,
zumal Frau Dahmen Rüdiger kannte und er außer sich
vor Freude war, dass man sich noch nach 3 Jahren
an ihn erinnerte. Wir erfuhren einiges über sein
Leben in Bethel, seine Familie, seine Arbeit,
seine Vorlieben und Hobbies, seine Wünsche und vor
allem über seine Fähigkeiten: Er kennt alle
Autokennzeichen und kann sich Geburtstage nach
einmaligem Hören oder Lesen dauerhaft merken. Wir
nannten reihum unsere Geburtstage, worauf er die
Namen von Prominenten, deren Geburtstag auf
demselben Tag liegen, zu 99% treffsicher nennen
konnte. Eine wandelnde Festplatte. Wir
hatten viel Spaß miteinander. Und Rüdiger? Freudig
erregt und glücklich darüber, dass er nicht in
Vergessenheit geraten war, baute er sich vor Herrn
Schulz auf: „Wirklich, die wussten noch, wer ich
bin!“, und entschwand beseelt, immer wieder
den Satz skandierend, in seine 30 qm große
Wohnung.
Eindeutig das Nachhaltigste des Tages! Nicht weil
der Kontakt, die Begegnung so gut gelungen war,
sondern darüber hinaus allen gezeigt hat, dass
allgemein eine Scheu überwunden werden sollte, mit
behinderten Menschen in Kontakt zu kommen,
sich auf ein Gespräch einzulassen, sich Zeit zu
nehmen und auch Geduld beim Zuhören zu haben.
Rüdiger hat uns erneut wie beim letzten Besuch die
Angst davor
genommen.
Übrigens
ist Angst,
in welcher Form auch immer, einer der Hauptgründe
für Diskriminierung, positive wie negative. Lasst
sie uns überwinden durch weitere Besuche,
vielleicht auch in anderen Fächern!
Text und Bilder:
Gislinde Dahmen