22.06.2016 |
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Ansprache von OStD Ulrich
Vielhauer
in der Entlassfeier der Abiturientia des Jahres 2016 des Friedrich-Leopold-Woeste-Gymnasiums am 22.06.2016 im Grohe Forum Hemer Liebe Abiturienten, liebe Eltern und Angehörige, sehr verehrte Festgäste, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, vor acht Jahren trafen 99 Hemeraner Familien eine Entscheidung, die dazu geführt hat, dass wir uns heute hier im Grohe-Forum treffen, um den Höhepunkt des Schuljahres, die Entlassung der Abiturientia 2016, zu feiern. Vor acht Jahren beschlossen Sie, liebe Eltern, Ihr Kind nach der Grundschulzeit auf das Woeste-Gymnasium zu schicken. Nun drängt sich mir die Frage auf, ob sich bei Euch, liebe Abiturienten, und Ihnen, liebe Eltern, beim Nachdenken über das Ergebnis des Schulbesuchs
Glück - seine Entstehung, seine Erhaltung oder seine Wiederkehr nach Verlust bedürfen immer zweierlei, nämlich
Kluge Entscheidungen zu treffen, sollte doch für Euch als Abiturienten kein Kunststück sein, möchte man denken, bescheinigt doch das Abiturzeugnis, dass Ihr bezogen auf Eure Altersgruppe überdurchschnittlich schlau seid ... Hm! Aber ist das Abiturzeugnis tatsächlich ein Testat für Klugheit? Mitnichten! Es bescheinigt Euch sehr wohl, dass Ihr über umfangreiches fachliches Wissen verfügt, Eure Kenntnisse einsetzen und den Einsatz dieser Kenntnisse mündlich oder schriftlich gescheit darstellen könnt. Ihr wisst, was ich meine: Das Abiturzeugnis zertifiziert die Größe des individuellen Kompetenzproduktes, gebildet aus aus Fleiß (horizontale Dimension) und Intelligenz (vertikale Dimension). Bei dem einen hat das Kompetenzprodukt mehr ein Hochformat, also mehr Intelligenz als Fleiß - solche Typen soll es geben -, bei dem anderen eher Querformat, also weniger Intelligenz, dafür viel Fleiß. Aber ganz ohne Intelligenz kommt es nicht zu einem Abiturzeugnis, denn, so lehrt die Mathematik, null mal irgendwas, und sei es auch noch so viel, ist null! Intelligenz ist definiert als die Fähigkeit zur Einsicht, zum Erkennen von Details und Zusammenhängen, zum Behalten und Übertragen von Erkenntnissen -, ist nicht jemand, der intelligent ist, auch klug? Ich wiederhole: Mitnichten! Intelligenz ist eine Eigenschaft des Seins, Klugheit eine Eigenschaft des Handelns.
Sein Schüler Aristoteles präzisierte Platons Vorstellungen, indem er die Klugheit als die „Fähigkeit zur Orientierung eigenen und fremden Handelns“ beschrieb. In diesem aristotelischen Sinne kann mit modernen Worten Klugheit als die Fähigkeit definiert werden, für anstehende Handlungsentscheidungen die absehbaren alternativen Konsequenzen zu erfassen, zu beurteilen und gegeneinander abzuwägen:
In der ersten Phase habt Ihr, liebe Abiturienten, damals in der Stufe EF zu verstehen versucht, welche Wahl- und Abwahlmöglichkeiten Euch überhaupt zur Verfügung standen. Danach habt Ihr in der zweiten Phase die Belegungsalternativen gegeneinander abgeglichen und sie mit Blick auf den heutigen Tag bewertet. Die meisten von Euch werden ehrlicherweise zugeben, dass sie sich insbesondere von zwei Bewertungskriterien haben leiten lassen:
In der dritten Phase habt ihr mit Hingabe an dem gewählten Unterricht in der Stufe Q1 teilgenommen. Kluges Handeln in Phase 3 bedeutet, dass getroffene Entscheidungen nicht zögerlich oder ängstlich, sondern mit Überzeugung und Schneid umgesetzt werden. Man handelt eben nur dann klug, wenn man innerlich und äußerlich zu seinen Entscheidungen steht und danach strebt, das Beste aus ihnen zu machen. So weit so gut. Wenn es so gewesen ist, habt Ihr klug gehandelt - mit Bezug auf das Abitur! Euer weiterer Bildungs- und Berufsweg wird Euch jedoch möglicherweise schmerzvoll bewusst machen, dass Eure Fächerwahlen nicht weise im Hinblick auf das Leben waren. Möglicherweise werdet Ihr Euch irgendwann im Rückblick vorwerfen, doch nicht die richtigen Kriterien angewandt zu haben:
Ihr werdet in Euerm Leben immer wieder in Entscheidungssituationen geraten, in denen ihr die vielfältigen Wirkungen der Handlungsalternativen nicht vollständig überschauen könnt. In diesen Fällen könnt Ihr die Wirkungen der Handlungsalternativen nur dann bewerten, wenn Ihr sie schon einmal erfahren habt. Um solche Situationen zu beherrschen, muss sich zur Klugheit noch als zweite Komponente die Erfahrung gesellen. Erfahrung ist die Komponente, die aus der Klugheit „Prudentia“ die Weisheit „Sapientia“ entstehen lässt. Ihr, liebe Abiturienten, habt bestimmte Lebenserfahrungen aufgrund Eurer Jugend noch nicht machen können; deshalb könnt Ihr allenfalls klug, aber in der Regel noch nicht weise handeln. Aber Ihr könnt auch schon in jungen Jahren den Mangel an Erfahrung kompensieren. Wie? Ganz einfach: Indem Ihr in kniffligen Situationen Rat bei erfahrenen Menschen sucht. Und die gibt es tatsächlich. Neben Euern Eltern und Großeltern fallen mir dabei sofort Eure Lehrer ein! Ihr ahnt nicht, wie viel Lebenserfahrung und damit Weisheit in so einem Lehrerkollegium versammelt ist! Nach der Abgrenzung von der Weisheit möchte ich über zwei christliche Tugenden sprechen, die zwar der Klugheit nicht zuwider laufen, aber doch mit ihr konkurrieren, mit ihr in einem direkten Spannungsverhältnis stehen; es handelt sich hierbei um die Hoffnung und die Barmherzigkeit. Beginnen wir mit der Hoffnung. Im Jahre 1969 erwarb ich kurz nach dem Abi mit 8 Fahrstunden den PKW-Führerschein. Durch die vielen Transportaufträge, die ich sodann im Auftrage meiner Eltern mit einem Autobianchi Panorama 500 ausführte, stieg mein fahrerisches Selbstbewusstsein rasant an. Wenn ich auf meinem 15-PS-Boliden bergab von den Endmoränenhügeln Ostholsteins mit dreistelligen Geschwindigkeiten durch die Kurven bretterte, kam ich mir vor wie Graham Hill, dem damaligen Formel-I-Weltmeister. Eines Tages, auf der Fahrt von Malente nach Eutin, fühlte ich mich besonders gut drauf. Nachdem ich hinter einem trödelnden Urlauber ungeduldig durch mehrere Kurven gezuckelt war, drückte ich beim Einbiegen in eine 300-m-Gerade das Gaspedal voll durch und bog zum Überholen auf die Gegenfahrbahn. Da es leicht bergauf ging, brauchte ich allerdings schon rund 100 Meter um mit dem Touri gleichzuziehen. In diesem Moment kam über die vor mir liegende Kuppe der Linienbus entgegen. Was tun? Weiter Vollgas oder Vollbremsung? Der Typ neben mir fuhr unbeirrt weiter. Mit der Hoffnung, es würde schon reichen, meine Fahrkunst würde schon den Ausschlag geben, entschied ich mich für die Vollgas-Rallye. Als wir Sekunden später zu dritt nebeneinander auf der engen Landstraße hupend aneinander vorbeirauschten, wusste ich, dass die Hoffnung ein schlechter Ratgeber gewesen war: Wie wenig hatte ich gewonnen, und wie viel hätte ich beinahe verloren! Wie unklug war doch meine Entscheidung gewesen! Unkluges Handeln wird oft von Hoffnung getragen. Von der Hoffnung, dass es gut ausgehen wird. Von der Hoffnung, dass die eigenen Fähigkeiten ausreichen, die Situation zu meistern. Nicht, dass Ihr jetzt denkt, ich hielte nichts vom Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Ganz im Gegenteil. Aber die Grenze zur Hybris ist gar zu schnell überschritten. Unsere Bundeskanzlerin hegte im vergangenen Jahr die Hoffnung, alle anderen Staaten der EU würden schon „mitziehen“, wenn sie die Migrationsschleusen öffnet, würden angesichts des grenzenlosen Flüchtlingselends nicht anders können, als solidarisch zu handeln. Wie wir wissen, ist es völlig anders gekommen. Alle Staaten Europas haben ihre Grenzen fest geschlossen, um ihre gesellschaftlichen Strukturen zu schützen. Sie haben es trotz des moralischen Drucks getan, der durch das Handeln der Bundesregierung hervorgerufen und durch die Medien vervielfältigt wurde. Sie haben damit auch den Hoffnungsfehler korrigiert, den die Bundesrepublik in Bezug auf die Toleranz und Großherzigkeit der deutschen Bevölkerung machte. Die letzten Landtagswahlen haben gezeigt, dass es neben der allgegenwärtigen, überwältigenden Hilfsbereitschaft auch tief sitzende Ängste vor Überfremdung, vor dem Verlust von gesellschaftlicher Identität gibt, die ein klug handelnder Politiker nicht ignorieren, noch nicht einmal geringschätzen darf, seien diese berechtigt oder nicht. Kommen wir zur Barmherzigkeit. Weil andere Staaten gestern hart, aber aus ihrer Sicht klug gehandelt haben, darf die Bundesregierung heute dem Volke glaubhaft versichern, sie bekomme die Zuwanderung in den Griff. Die Unbarmherzigkeit der anderen Staaten liefert ihr darüber hinaus ein entscheidendes Argument für den Abschluss eines moralisch zweifelhaften Menschenhandels mit der Türkei: Wir müssen uns mit der Türkei arrangieren, so heißt es, weil es sonst in Griechenland zur Katastrophe kommt. Hat also Europa die Barmherzigkeit auf dem Altar der Klugheit geopfert?
Bleibt die Frage nach der Verträglichkeit von Klugheit und Barmherzigkeit. Immanuel Kant lehnte ja Platons Tugendethik ab; er bezeichnete die Klugheit moralisch abwertend als „die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein“. Das Maß aller Dinge war für Kant der kategorische Imperativ, der von dem Individuum verlangt, sein Handeln stets aus Prinzipien abzuleiten, für die Allgemeingültigkeit erstrebenswert ist. Wer beispielsweise sein Vermögen in einer Briefkastenfirma in Panama vor dem Fiskus versteckt, der verstößt gegen den kategorischen Imperativ in größtmöglicher Weise. Barmherziges Handeln ist im Kantschen Sinne immer gut, kluges Handeln in vielen Fällen nicht. Gibt es eine Chance, die beiden Tugenden dennoch in Einklang zu bringen? Eine Triathletin beobachtet, wie zwei Jungen, die kaum schwimmen können, beim Baden am Strand von Biarritz in die gefährliche Strömung geraten und in Todesangst wild um sich schlagen. Die Sportlerin handelt barmherzig und in keiner Weise unklug, wenn sie sich in die Fluten stürzt, um die Jungen zu retten. Barmherzigkeit und Klugheit stehen hier nicht im Widerspruch zueinander, sondern führen zusammen mit einem klugen Einsatz der Tapferkeit zu einer ethischen Glanzleistung. Ein kleines Mädchen beobachtet, wie zwei große Kerle, die kaum schwimmen können, beim Baden am Strand von Biarritz in die gefährliche Strömung geraten und in Todesangst wild um sich schlagen. Das Mädchen handelte zwar barmherzig, wenn es sich in die Fluten stürzt, um die Kerle zu retten, aber offensichtlich hochgradig unklug. Nicht zwei, sondern drei Todesfälle wären höchstwahrscheinlich die Folge. Das Mädchen würde dann klug handeln, wenn es alle Möglichkeiten, Hilfe zu holen, ausschöpfte und letztlich auf diese Weise der Barmherzigkeit zum Erfolg verhülfe. Der scheinbare Gegensatz wird dadurch aufgelöst, dass sich die Klugheit der anderen Tugend gewinnbringend unterordnet. Das Beispiel zeigt, dass der Vorrang, den Aristoteles der Klugheit unter den Tugenden einräumte, mit ihrer ethischen Unterordnung zu begründen ist. Deutschland ist gewiss kein kleines Mädchen. Aber angesichts des schieren Ausmaßes an Elend in der Welt muss barmherzige Politik von Klugheit geleitet sein. Das Motto „Lasset alle Not Leidenden zu uns kommen“ käme einer gesellschaftlichen Selbstaufgabe gleich. Die Kuh, die viel Milch geben könnte, würde kurzerhand geschlachtet.
Macht's gut und danke für die offenen Ohren. |