16.04.2016 | |||||||
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LeBen, Arbeiten mit Einschränkungen – Gemeinschaft verwirklichenEin Unterrichtsgang der besonderen Art07.April 2016, 10.00 Uhr:“Hallo erstmal”, begrüßte Herr Bauer den Relikurs der 8a/b im Dankort und führte in lockerer Form durch das für uns zusammengestellte Tagesprogramm, das spielerisch-informativ mit einem Quiz rund um Bethel begann.Wir erfuhren u. a., dass mehr als 17 000 Mitarbeiter/innen sich in Bethel für kranke, behinderte, pflegebedürftige oder sozial benachteiligte Menschen engagieren und dass diese Einrichtung vielfältige Unterstützungsangebote in den Bereichen Behindertenhilfe, Jugendhilfe, Psychiatrie, Sucht, Wohnungslosenhilfe sowie Arbeit und Rehabilitation anbietet. Ein menschenwürdiges Leben bis zuletzt ermöglicht sterbenden Menschen zudem die Hospizarbeit. Im Quiz integriert waren auch Aktionen, die jeder Kleingruppe bei erfolgreicher Ausführung Punkte verschaffte. Anna musste innerhalb einer Minute versuchen mit einer Hand ein Herrenhemd zuzuknöpfen, was ihr auch eigenständig gelang, obwohl sie die Möglichkeit gehabt hätte, sich Hilfe einzufordern. Doch hatte Herr Bauer diesen Hinweis bewusst verschwiegen, um deutlich zu machen, dass es zunächst oberstes Gebot ist, jedem Menschen mit Handicap die Selbständigkeit zu erhalten. Wenn er Hilfe brauche, müsse er um Hilfe bitten bzw. diejenigen, die ihm helfen möchten, müssten zunächst fragen, ob er Hilfe brauche, ob man ihm helfen dürfe und wie man ihm helfen könne. Jegliches gut gemeintes voreiliges Handeln würde ihn entmündigen und ihn positiv diskriminieren. 11:00 Uhr:Jetzt hieß es „Augen auf“. Jede Kleingruppe erhielt ein Foto mit einem Gebäude, das sie in der Ortschaft finden und darüber Informationen einholen musste, um sie dann in einer Auswertungsrunde den anderen Gruppen vorzustellen.Die Fotoralley führte sie zu einem der ältesten Betriebe Bethels, die Brockensammlung, kurz Brosa genannt, mit dem Schriftzug „Sammelt die Brocken, auf dass nichts umkomme“ (Joh.6,12). Die Läden der Brosa bieten Bekleidung, Haushaltswaren und Antikes zu einem günstigen Preis und garantieren vielen Menschen mit Behinderungen einen Arbeitsplatz. Alt-Ebenezer und die Werkstatt Spielkiste mit dem Laden Mobilé waren die nächsten Gebäude. Durch die Präsentation der Gruppe erfuhren wir, dass die Menschen früher in den Pflegehäusern in Bethel in großen Schlafsälen mit vielen anderen zusammen untergebracht waren. Mithilfe eines Torfbettes wurde das Problem des Einnässens gelöst. Das Material hat die Eigenschaft, ähnlich dem Katzenstreu, Urin aufzusaugen und zu binden und konnte problemlos entsorgt werden. Außerdem verhinderte es durch gute Anpassungsfähigkeit das sogenannte Wundliegen. In der Werkstatt „Spielkiste“ arbeiten Menschen mit psychischen Krankheiten. Hier werden Holz- und textile Produkte hergestellt. Die Buchhandlung des Ortes, die 1879 gegründet wurde, ist ein gutes Beispiel für gelungene Inklusion – sie bietet jeweils 5 behinderten und nicht-behinderten Menschen eine Beschäftigung. Das 1869 gegründete ehemalige Mutterhaus der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta bot damals unverheirateten Frauen eine gesellschaftlich anerkannte berufliche Qualifikation und dient heute als Ausbildungsstätte für pflegnerische Berufe im Gesundheitswesen. Weitere Wege führten zur Zionskirche, zur Waldkirche, dem Künstlerhaus Lydda, zur Mamre-Patmos-Schule, die eine integrative, barrierefreie Schule für lern-, geistig, körperlich und mehrfach behinderte Kinder und Jugendliche ist und zum renommierten und überregionalen Epilepsie-Zentrum Bethels mit den Kliniken Mara I und Kidron sowie zu Werkstätten für Verpackung und Montage (VerMont), einer Handweberei, Druckerei und einem Direktversand. Der Name Bethel ist Programm für die Bodelschwinghschen Stiftungen. Er kommt aus dem Hebräischen und heißt „Haus Gottes“. Der christliche Glaube beruht auf der Achtung der unveräußerlichen Würde jedes einzelnen Menschen als Geschöpf Gottes. Die Vision Bethels ist, dass jeder Mensch, ob jung, alt, gesund, krank, behindert, mit seinen Stärken und all seinen Schwächen zu unserer Gemeinschaft gehört - und das nicht nur in Bethel, sondern auch gesamtgesellschaftlich umgesetzt wird. Jeder Mensch habe einen Anspruch darauf, in seiner Einzigartigkeit geachtet und ernst genommen zu werden. Die Gesellschaft stehe in der Verantwortung, jeden Menschen in seiner Gegebenheit zu respektieren und seine Fähigkeiten zu achten, so das diakonische Profil Bethels. Nach der Mittagspause:Nach der Mittagspause stand der nächste Programmpunkt an: „Diskriminierung“, insbesondere von behinderten Menschen.Herr Bauer erklärte uns zunächst, wann von einer Behinderung gesprochen wird. Weicht die körperliche Funktion, die geistige Fähigkeit oder die seelische Gesundheit länger als 6 Monate vom für das Lebensalter typischen Zustand ab und ist dadurch die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt, so liegt eine Behinderung vor. Im öffentlichen Leben, in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt erfahren Menschen mit Behinderungen in vielen Bereichen Diskriminierung. Nicht immer ist es für sie möglich, selbstständig und weitestgehend ohne fremde Hilfe eine öffentliche oder private Einrichtung, eine Wohnung zu erreichen oder ein Verkehrsmittel zu benutzen. Wir lernten die Formulierungen „behindertengerecht“ und „barrierefrei“ inhaltlich voneinander zu unterscheiden und erhielten Beispiele für sinnvolle Möglichkeiten der praktischen Umsetzung (z. B. Rampen für Rollstühle, Amtsschilder mit Brailleschrift, elektrische Türöffner, Website der ADS für Menschen mit Sehbehinderung u.v.m.) und weniger sinnvolle (Behindertentoilette bitte die Treppe runter!!!) kennen. Angesprochen wurde auch, dass die UN-Behindertenrechtskonvention verlange, dass behinderte Kinder grundsätzlich an Regelschulen unterrichtet werden müssen, was in Deutschland noch lange nicht der Fall ist. Vielfach scheitert es daran, dass die meisten Schulen nicht barrierefrei sind, wie wir dies auch am Woeste-Gymnasium feststellten. Auch gebe es nicht ausreichend Pädagogen mit Zeit für die Kinder, die eine gute inklusive Schule auszeichneten. Erschreckend jedoch andere diskriminierende Fälle: - Einem in seinem Bewegungsablauf eingeschränkten Mann mit leichter Sprachbehinderung wurde in seiner Bank mitgeteilt, die Mitarbeiter empfänden „großen Ekel“. Er möge daher bitte immer in Begleitung kommen. - Eine Servicekraft mit einer vernarbten Augenverletzung durfte keinen Kundenkontakt haben, da sich mehrere Gäste beschwert hätten. - Eine Rentnerin hatte ein Reiseunternehmen wegen Mängel des Strandes und des Hotels verklagt; vor allem aber fühlte sie sich durch eine Gruppe geistig Behinderter um ihren Urlaub betrogen – und ihr wurde Recht zugesprochen mit der Begründung, dass eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann. Dass es Leid auf der Welt gebe, sei nicht zu ändern, aber es könne der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will. 14.30 Uhr: „Expertenrunde“ – Gespräche mit Menschen aus BethelWas dürfen wir fragen, was eher nicht? Wie sprechen wir sie an? Unsicherheit auf beiden Seiten. Was erwartet uns/mich? Theorie ist das eine, Praxis das andere – eine Bewährungsprobe für uns.Dann erschien Rüdiger, 56 Jahre alt, mehrfach behindert, was wir im Gespräch mit ihm nach und nach herausfanden: Brillenträger, schwerhörig, gehbehindert, Stotterer, leichte geistige Behinderung in Kombination mit einer Form des Autismus. Sein Mitstreiter in der Expertenrunde war leider erkrankt. Die anfängliche Verhaltenheit wich schnell und wir erfuhren einiges über sein Leben in Bethel, seine Familie, seine Arbeit, seine Vorlieben und Hobbies, seine Wünsche und vor allem über seine Fähigkeiten: Er kennt alle Autokennzeichen und kann sich Geburtstage nach einmaligem Hören oder Lesen dauerhaft merken. Wir nannten reihum unsere Geburtstage, worauf er die Namen von Prominenten , deren Geburtstag auf demselben Tag liegen, zu 99% treffsicher nennen konnte. Eine wandelnde Festplatte. Wir hatten viel Spaß miteinander. In der Auswertungsrunde „Wie war’s?“ war das Gespräch mit Rüdiger eindeutig das Nachhaltigste, aber nicht weil der Kontakt, die Begegnung so gut gelungen war, sondern darüber hinaus allen gezeigt hat, dass allgemein eine Scheu überwunden werden sollte, mit behinderten Menschen in Kontakt zu kommen, sich auf ein Gespräch einzulassen, sich Zeit zu nehmen und auch Geduld beim Zuhören zu haben. Rüdiger hat uns die Angst davor genommen. Übrigens ist Angst, in welcher Form auch immer, einer der Hauptgründe für Diskriminierung. Text/Bilder: Gislinde
Dahmen
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